Das Lernen am Modell durch Imitation der Älteren kann aber auch Nachteile haben, indem es durch Nachplappern ohne Reflexion zur Entstehung von Vorurteilen beiträgt. Auch das assoziative Lernen am Einzelfall–in der unreflektierten Abfolge von Reiz, Assoziation, Reaktion und Gedächtnis –kann schnell bleibende Akzente setzen und zur Quelle von Vorurteilen werden. Besonders anfällig in dieser Hinsicht sind kreationistische Erklärungsmuster der Welt in Kombination mit dem Gefühl der subjektiven Wahrheit, das in uns steckt.Aus einer solchen Mischung entstehen dann leicht die Weltbilder, auf deren Basis Ideologien, religiöser Extremismus und Ausgrenzungen in Erscheinung treten können.

Erwachsene glauben von sich oft, dass sie die Vorurteile ihrer Kindheit und Jugend überwunden haben. Bei näherer Betrachtung ist dies aber häufig ein Irrtum. Hier nur einige Beispiele für Vorurteile, die darauf hinauslaufen, dass Menschen verschiedener Herkunft sehr unterschiedlich sind: In Medizinerkreisen ist das Konzept des„Morbus sicilianus“ beliebt, das Südeuropäern (Prototyp: Sizilianer) eine histrionische Persönlichkeit mit erhöhter Schmerzempfindlichkeit bzw. extrovertierter Ausgestaltung des eigenen Leidens zuschreibt. „Preußen“ordnen Bayern einen vom eigenen  deutlich verschiedenen „nationalen Charakter“ zu. Südbadener sehen sich in scharfem Kontrast zu Schwaben, Berliner und Hamburger empfinden sich gegenseitig als sehr verschieden. Kölner und Düsseldorfer, Mainzer und Wiesbadener–häufig wird der Gruppenunterschied betont und nicht nur an Fastnacht oder Karneval gepflegt.

Die Frage, ob es solche Unterschiede in den„nationalen Charakteren“ tatsächlich gibt oder ob es sich dabei um klassische Vorurteile handelt, wurde in 49 verschiedenen Nationen und Kulturkreisen untersucht (Terracciano et al. 2005), und das Ergebnis war verblüffend: Der nationale Charakter in den weltweit untersuchten Nationenen lässt sich nicht mithilfe von Persönlichkeitszügen unterscheiden. Die Idee, dass sich die Persönlichkeit des Hamburgers von derjenigen des Berliners unterscheidet oder diejenige des Indonesiers von derjenigen des Polen, entbehrt jeglicher wissenschaftlicher Evidenz.

aus: Dieter F. Braus, EinBlick ins Gehirn. Eine andere Einführung in die Psychiatrie (2004)