„Außer dem Lesen von überregionalen Witzblättern sah er jeden Abend fern, am liebsten öffentlich-rechtlich. Erst die Nachrichten und danach die einschlägigen Selbstentlarvungsshows mit Plasberg, Will, Beckmann, Maischberger, Illner oder Lanz. Die industrialisierte Zurschaustellung von Inkompetenz erheiterte ihn.

Im Spätkapitalismus gab es keine Gesellschaft mehr, sondern nur noch ein Gesellschaftsspiel, dessen Ziel darin bestand, die kläglichen Überreste von Politik möglichst gekonnt in Unterhaltungswert umzusetzen. Da die Politiker nach eigenem Verständnis ohnehin nichts mehr zu entscheiden hatten, verwandelten sie sich in Politikdarsteller, deren Hauptaufgabe in Emotionstheater, Überzeugungsinszenierung und Entscheidungssimulation bestand.

In gewisser Weise war das Kunst. Es gab Empörungsarien, Schuld-zuweisungssinfonien und Forderungsballaden. Bequem saß Kron im Sessel, wie es das System von ihm erwartete, und schaute Kanzlerkandidaten, Oppositionsführern und Regierungssprechern beim Rüberkommen zu. Alle schauten zu. Der Konsumbürger schaute den Journalisten zu, wie sie den Politikern dabei zuschauten, wie diese der Wirtschaft beim Wirtschaften und den Katastrophen beim Eintreten zuschauten.

Alles ließ sich in den Zyklus des Zuschauens einspeisen, Eurokrisen, Erdbeben, explodierende Bohrinseln. Bei der Suche nach nicht vorhandenen, weil in Wahrheit nicht wirklich gewollten »Lösungen« ging es ausschließlich um das Erzeugen von Unterhaltungswert.“

Kron
Auszug aus: Juli Zeh, Unterleuten
Luchterhand Literaturverlag, München 2016
ISBN 9783630874876
Gebunden, 640 Seiten,