Beiträge zur Musik und mein Senf zu anderen Dingen

Kategorie: Literatur Seite 3 von 7

Politikdarsteller und ihre Zurschaustellung von Inkompetenz

„Außer dem Lesen von überregionalen Witzblättern sah er jeden Abend fern, am liebsten öffentlich-rechtlich. Erst die Nachrichten und danach die einschlägigen Selbstentlarvungsshows mit Plasberg, Will, Beckmann, Maischberger, Illner oder Lanz. Die industrialisierte Zurschaustellung von Inkompetenz erheiterte ihn.

Im Spätkapitalismus gab es keine Gesellschaft mehr, sondern nur noch ein Gesellschaftsspiel, dessen Ziel darin bestand, die kläglichen Überreste von Politik möglichst gekonnt in Unterhaltungswert umzusetzen. Da die Politiker nach eigenem Verständnis ohnehin nichts mehr zu entscheiden hatten, verwandelten sie sich in Politikdarsteller, deren Hauptaufgabe in Emotionstheater, Überzeugungsinszenierung und Entscheidungssimulation bestand.

In gewisser Weise war das Kunst. Es gab Empörungsarien, Schuld-zuweisungssinfonien und Forderungsballaden. Bequem saß Kron im Sessel, wie es das System von ihm erwartete, und schaute Kanzlerkandidaten, Oppositionsführern und Regierungssprechern beim Rüberkommen zu. Alle schauten zu. Der Konsumbürger schaute den Journalisten zu, wie sie den Politikern dabei zuschauten, wie diese der Wirtschaft beim Wirtschaften und den Katastrophen beim Eintreten zuschauten.

Alles ließ sich in den Zyklus des Zuschauens einspeisen, Eurokrisen, Erdbeben, explodierende Bohrinseln. Bei der Suche nach nicht vorhandenen, weil in Wahrheit nicht wirklich gewollten »Lösungen« ging es ausschließlich um das Erzeugen von Unterhaltungswert.“

Kron
Auszug aus: Juli Zeh, Unterleuten
Luchterhand Literaturverlag, München 2016
ISBN 9783630874876
Gebunden, 640 Seiten,

Blick in ferne Zukunft

…Und wenn alles vorüber ist –; wenn sich das alles totgelaufen hat: der Hordenwahnsinn, die Wonne, in Massen aufzutreten, in Massen zu brüllen und in Gruppen Fahnen zu schwenken, wenn diese Zeitkrankheit vergangen ist, die die niedrigen Eigenschaften des Menschen zu guten umlügt; wenn die Leute zwar nicht klüger, aber müde geworden sind; wenn alle Kämpfe um den Fascismus ausgekämpft und wenn die letzten freiheitlichen Emigranten dahingeschieden sind –:

dann wird es eines Tages wieder sehr modern werden, liberal zu sein.

Dann wird einer kommen, der wird eine gradezu donnernde Entdeckung machen: er wird den Einzelmenschen entdecken. Er wird dahinter kommen: Herrschaften, es gibt einen Organismus, Mensch geheißen, und auf den kommt es an. Ob der glücklich ist, das ist die Frage. Daß der frei ist, das ist das Ziel. Gruppen sind etwas Sekundäres – der Staat ist etwas Sekundäres. Es kommt nicht darauf an, daß der Staat lebe – es kommt darauf an, daß der Mensch lebe.

Dieser Mann, der so spricht, wird eine große Wirkung hervorrufen. Die Leute werden seiner These zujubeln und werden sagen: „Das ist ja ganz neu! Welch ein Mut! Das haben wir noch nie gehört! Eine neue Epoche der Menschheit bricht an! Welch ein Genie haben wir unter uns! Auf, auf! Die neue Lehre –!“

Und seine Bücher werden gekauft werden oder vielmehr die seiner Nachschreiber, denn der erste ist ja immer der Dumme.

Und dann wird sich das auswirken, und hunderttausend schwarzer, brauner und roter Hemden werden in die Ecke fliegen und auf den Misthaufen. Und die Leute werden wieder Mut zu sich selber bekommen, ohne Mehrheitsbeschlüsse und ohne Angst vor dem Staat, vor dem sie gekuscht hatten wie geprügelte Hunde. Und das wird dann so gehen, bis eines Tages…

Autor: Kurt Tucholsky unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel
Titel: Blick in ferne Zukunft aus: Die Weltbühne. Jahrgang 26, Nummer 44, Seite 665. Herausgeber: Carl von Ossietzky
Erscheinungsdatum: 28. Oktober 1930

Zitat

„Lesen ist Denken mit fremden Gehirn.“
Jorge Luis Borges

 

Herumgestöbert: Szenekneipe

Per Zufall bin ich auf diese Arbeit gestoßen, die mich an eine wissenschaftliche Untersuchung erinnert hat, die von Franz Dröge und Thomas Krämer-Badoni stammt, „Die Kneipe. Zur Soziologie einer Kulturform oder „Zwei Halbe auf mich!“ aus dem Jahr 1987.

Also habe ich mal ein bisschen „quer“ gelesen im „Kommunikationsraum Szenekneipe“.

Und wann wart Ihr zuletzt in einer Szenekneipe? Was ist das überhaupt, was kennzeichnet sie, welche Relevanz hat sie für eine gewisse Lebensspanne, welche Kommunikationsstrukturen findet man dort und welche Bedeutung hat sie als Ort der Selbstinszenierung und des Selbstmarketing?

Das sind nur einige Punkte, welche Anneli Starzinger in ihrer Studie berührt, die in erster Linie auf teilnehmender Beobachtung sowie Tiefeninterviews mit Betreibern, Personal und Gästen von Szenekneipen und Befragung mit standardisierten Fragebögen basierte. Durch eine Fragebogenaktion wurden jeweils 200 Personen in Essen und in Bonn aufgefordert, einmal aufzuzählen, welche Kneipen sie in ihrer Stadt als „Szenekneipen“ bezeichnen würden. Die beiden am häufigsten genannten wurden anschließend als Untersuchungseinheit ausgewählt.

Mich hat an der Studie u.a. der Stellenwert, den die Musik in der Kneipe hat, interessiert.

Musik als Medium, über das man sich einer bestimmten Kneipenszene zuordnet, spielt offenbar nicht mehr eine vorrangige Rolle.  Sie dient hier eher der Unterhaltung und Untermalung und wird dementsprechend als unpassend oder störend empfunden, wenn sie zu laut oder penetrant ist.

Die interviewten Kneipenbetreiber legten Wert darauf, die Musikauswahl völlig in die Hände des Personals zu legen. In beiden Kneipen war überhaupt kein eigener Bestand an CDs oder MCs vorhanden. Die diensthabenden Mitarbeiter brachten ihre Musik jeweils selber mit, und ihr Geschmack oder Interesse für Musik entschied dann über die gespielte Musik. Dabei konnte es auch vorkommen, dass ein Mitarbeiter gar keine Musik mitbrachte und dann dementsprechend Stille herrschte.  Häufiger war aber der Fall, dass etliche Mitarbeiter besondere Sorgfalt in die Auswahl der mitgebrachten Musik investierten und dafür auch bekannt waren.

Musikhören in der Kneipe hatte früher einen anderen und größeren Stellenwert als heute, da es für viele Jugendliche oft die einzige Möglichkeit war, die ein beengtes bzw. durch elterliche Musik bestimmtes Zuhause nicht bot. Mit dem Entstehen von Jugendzentren oder anderen Treffpunkten, die sich eher für gemeinsames Musikhören oder/und Tanzen eigneten, nahm die Bedeutung von Kneipen dafür eher ab.

Eine wichtigere Rolle spielt die Musik in den Szenekneipen, die – bevorzugt am Wochen-
ende – auch Tanz anbieten. Hier handelt es sich in der Regel um große Szenekneipen, die über entsprechende räumliche Möglichkeiten verfügen. Durch dieses zusätzliche Angebot verändert sich naturgemäß auch die Zusammensetzung des Publikums. Viele suchen am Wochenende gezielt Orte auf, an denen auch die Möglichkeit zum Tanz besteht. Diese Option wurde häufig als ein positives Kriterium einer Szenekneipe herausgehoben. Meistens handelte es sich bei den Gästen, die dieses Merkmal betonten, um Leute, die angaben, ungern eine normale Diskothek aufzusuchen. Ihnen war die Kombination von Szenekneipe und Tanzmöglichkeit offensichtlich wichtig.

Nicht selten bildet sich in den Szenekneipen, die Tanz anbieten, um die Tanzfläche herum ein Kreis  von  tanzwilligen Leuten,  die  auf „ihre“ Musik  warten.  Hier wird passende Musik zum ausschlaggebenden Kriterium für die Tanzbereitschaft.  Nicht selten bedauerten Gäste, daß die Musik so sei, daß sie ihnen den Spaß am Tanzen verderben würde. Auch wenn Sehen und Gesehenwerden,  Show  und  Selbstdarstellung  auf der Tanzfläche  sicherlich  eine  gesteigerte Rolle spielen, ist die Bedeutung der Musik dabei  als symbolischer Zuordnungsfaktor zu einer Tanzgemeinde nicht zu  unterschätzen.  Besonders vom „älteren“ Szenekneipenpublikum wurde oft beanstandet, daß die Technorhythmen der nachwachsenden Szenegeneration für  sie nicht ertragbar oder gar tanzbar seien.

Anneli Starzinger, Kommunikationsraum Szenekneipe. Annäherung an ein Produkt der Erlebnisgesellschaft. Dt. Univ.-Verlag, Wiesbaden, 2000

Buchtipp: Living The Beatles Legend

Die erste ausführliche Biografie von Malcolm Evans. Er war der langjährige Roadie, persönliche Assistent und treue Freund der Beatles, war ein unschätzbares Mitglied des inneren Kreises der Band. Als überragende Gestalt mit Hornbrille spielte Evans eine wichtige Rolle in der Geschichte der Beatles, trug zeitweise als Musiker und manchmal als Texter bei, während er seine geliebten „Jungs“ mit aller Kraft beschützen wollte. Er war während der gesamten bemerkenswerten Geschichte der Gruppe dabei: vom Triumph im Shea-Stadion über die Gestaltung des zeitlosen Covers von „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ bis hin zum berühmten Konzert auf dem Dach von „Let It Be“. Mal wie er von der Gruppe genannt wurde, verließ seinen sicheren Job als Telekommunikationsingenieur, um als Roadmanager für die junge Band zu arbeiten. Er war der Außenseiter der ersten Stunde, verheiratet, hatte Kinder und keinerlei Erfahrung im Musikgeschäft. Und doch stürzte er sich kopfüber in die Welt der Band, reiste um den Globus und machte sich unentbehrlich.

In den Jahren nach der Auflösung der Beatles arbeitete „Big Mal“ weiter für sie, während jeder von ihnen eine Solokarriere startete. 1974 war er entschlossen, sich als Songschreiber und Plattenproduzent einen Namen zu machen, und er begann ein neues Leben in Los Angeles, wo er seine Memoiren verfasste. Doch im Januar 1976, kurz vor der Veröffentlichung seines Buches, nahm Evans‘ Geschichte während einer häuslichen Auseinandersetzung mit der Polizei ein tragisches Ende. Für Beatles-Anhänger waren Mal’s Leben und sein früher Tod stets von Geheimnissen umhüllt. Jahrzehntelang waren seine Tagebücher, Manuskripte und seine riesige Sammlung von Erinnerungsstücken verschollen, scheinbar für immer verloren… bis jetzt. Der Beatles-Forscher und Autor Kenneth Womack hatte vollen Zugang zu Mal’s unveröffentlichten Archiven und hat Hunderte von neuen Interviews geführt, um die unbekannte Geschichte von Mal, dem Herzstück der Beatles-Legende, vollständig zu erzählen. „Living the Beatles‘ Legend: The Untold Story of Mal Evans“ ist ein bislang fehlendes Puzzlestück in der Geschichte der Fab Four.

Erschienen ist das Buch im November 2023. Bis heute gibt es die lesenswerte Geschichte von Malcolm Evans leider nur in Englisch.

LIVING THE BEATLES LEGEND – THE UNTOLD STORY OF MAL EVANS.
Autor: Kenneth Womack
Verlag: Day Street Books, USA
ISBN-13: 978-0063248526.

Buchtipp: Frankie

»Das wär nix für mich, so’n Lebenssinn. Erstmal muss man ihn finden. Und dann muss man drauf aufpassen, damit man ihn nicht verliert.«

Ein Mensch hat alles vorbereitet. Heute ist der Tag, an dem er sich das Leben nehmen wird. Der Strick liegt schon um seinen Hals, als sich ein dürrer Kater vor das Fenster setzt, interessiert glotzt – und den Menschen komplett aus dem Konzept bringt. Als dann der Kater auch noch bei ihm einzieht, weil der einen großen Fernseher hat, ein „extremst“ weiches Bett und Essen bekommt, beginnt die skurrile Freundschaft zwischen zwei Außenseitern, von denen zumindest einer ganz fest an ein Happy End im Leben glaubt.

Ein interessanter und unterhaltsamer Ansatz, aus der Sicht eines „menschisch“ sprechenden und „katzisch“ denkenden Katers zu schreiben. Der Roman von Gutsch und Leo bietet viel zum Schmunzeln und zum Nachdenken, er ist lustig und traurig zugleich. Der depressive und suizidale Richard Gold, der den Tod seiner Frau nicht überwinden kann, trifft auf den lebensfrohen und positiv denkenden Kater Frankie, der an den Sinn des Lebens keinen Gedanken verschwendet und nicht verstehen kann, dass ein Mensch sich umbringen will – noch dazu mit einem „Faden“. Einem Tier kann es passieren, überfahren oder gefressen zu werden, aber freiwillig – niemals.

“Gold spielt gern mit dem Faden. Das is‘ genau sein Ding“.

„Find ich trotzdem nicht in Ordnung von ihm, dass er dich da so hängen lässt. Schließlich ging es um Leben und Tod“

Am Ende sind Frankie und seine Tierfreunde so klug, sich Hilfe von den Menschen zu holen, um Richard Gold aus seiner Depression zu befreien. Und so färbt der Lebenswille des Katers doch auf seine Umgebung ab, frei nach dem Motto:

Ich bin Frankie. Von mir hört ihr hier kein schlechtes Wort übers Leben. Is‘ so.

Jochen Gutsch, Maxim Leo
Frankie
192 Seiten
Verlag: Penguin
ISBN: 978-3328601838

 

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